Historiker soll Geschichte des Torfabbaus im Himmelmoor erforschen

Der Historiker Dr. Karsten Wilke wurde von Jens-Olaf Nuckel und Christiane Lefebvre als Vertreter des Trägervereins Henri-Goldstein-Haus vorsgestellt (v.l.)
Der Historiker Dr. Karsten Wilke wurde von Jens-Olaf Nuckel und Christiane Lefebvre als Vertreter des Trägervereins Henri-Goldstein-Haus vorsgestellt (v.l.)

28.12.2022 | Der Ort für das Pressegespräch war bewusst gewählt: In der bedrückenden Atmosphäre des Henri-Goldstein-Haus stellten Jens-Olaf Nuckel, der Vorsitzende des Trägervereins Henri-Goldstein-Haus und seine Stellvertreterin Christiana Lefebvre den Historiker Dr. Karsten Wilke vor, der in den nächsten zwei Jahren die Geschichte des Torfabbaus im Quickborner Himmelmoor erforschen soll. Sehr erwünscht seien dazu auch bislang nicht veröffentliche Quellen aus dem Privatbesitz Quickborner Bürger oder Unternehmen.

 

In dem unscheinbaren Backsteingebäude am Rande des Himmelmoores waren in der NS-Zeit 50 jüdische Kriegesgefangene untergebracht, die in der Torfgewinnung arbeiten mussten. Darunter war auch der Belgier Henri-Goldstein, nach dem das Haus später benannt wurde. In diesem Jahr konnte der Verein bedeutsame Erfolge in seinem Bestreben verzeichnen, das Gebäude als Mahnmal zu erhalten und herzurichten: Es ist jetzt die einzige anerkannte NS-Gedenkstätte im Kreis Pinneberg, zudem erhielt der Verein vom Land 200.000 Euro Fördermittel. Davon fließen 130.000 Euro in die Sanierung des Gebäudes, der Rest wird in die historische Forschung investiert.

 

Dazu gab es im Sommer diesen Jahres eine Ausschreibung, bei der knapp 30 qualifizierte Bewerbungen eingingen. Die Auswahl sei nicht leicht gefallen, berichtet Nuckel, letztlich habe man sich für Dr. Karsten Wilke entschieden. Der 1971 geborene Bielefelder hat nach dem Studium der Geschichts- und Literaturwissenschaften 2011 in Geschichte promoviert.

Er war als selbstständiger Historiker sowie als wiss. Mitarbeiter am Institut für Ethik, Geschichte u. Philosophie der Medizin an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) tätig und hat Arbeiten zur Geschichte der nationalsozialistischen Lager, zur Geschichte des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik sowie zur Diakonie- und Medizingeschichte veröffentlicht.

 

Das Projekt

„Torfabbau und Zwangsarbeit im Quickborner Himmelmoor. Lagerwelten im ländlichen Raum 1910–1960", so lautet der Arbeitstitel für die Arbeit des Wissenschaftlers. Doch Wilke sieht die Aufgabe weiter gespannt:„Auch wenn der Untersuchungszeitraum mit 1910–1960 angegeben ist, geht es in dem Projekt eigentlich darum, die Geschichte des Torfabbaus im Himmelmoor über einen Zeitraum von etwa 150 Jahren – also von den 1870er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart – zu rekonstruieren. Der besondere Fokus liegt hierbei auf der Zwangsarbeit und auf den „Lagerwelten“ die vor Ort existierten." Auf Wunsch des Vereins sei er derzeit damit befasst, die Grundlagenforschung zur Errichtung einer Gedenkstätte im „Henri-Goldstein-Haus“ durchzuführen. Die Ergebnisse sollen anschließend als Buch veröffentlicht werden und in das Informationsmaterial sowie in die pädagogische Arbeit der geplanten Gedenkstätte einfließen.

 

Ausgangspunkt der Forschungstätigkeit

Ausgangspunkt seiner Arbeit sei das Wissen um die Existenz von Kriegsgefangenenlagern, die während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs im Himmelmoor bestanden. Zur Situation während des Ersten Weltkriegs sei kaum etwas bekannt, außer dass seinerzeit russische Kriegsgefangenen hier tätig waren und dass mehrere Gebäude aus dieser Zeit bis heute existieren.

 

Über die Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges wissen man deutlich mehr, aber insgesamt auch nicht wirklich viel. Es gebe inzwischen verschiedene Berichte von einigen bzw. über einige der Kriegsgefangenen jüdischer Herkunft, die hier in dem Arbeitskommando 1416 tätig waren. Hervorzuheben seien hierbei die Aufzeichnungen des Belgiers Henri Goldstein.

Hingegen wisse man über die sowjetischen Kriegsgefangenen, die hier ebenfalls zum Torfstechen gezwungen wurden, im Prinzip gar nichts – außer dass sechs von ihnen im Himmelmoor verstarben und in Quickborn bestattet worden sind.

 

Der derzeitige Ukraine-Krieg erschwere diesbezüglich in drastischer Weise den Zugang zu Quellen beispielsweise in russischen und ukrainischen Archiven. Was hier überhaupt möglich sei, müsse er in den nächsten Monaten erst noch genauer in Erfahrung bringen.

 

Ebenfalls bisher nur wenig beachtet sei die Tatsache, dass im Himmelmoor nicht nur Kriegsgefangene Zwangsarbeit leisten mussten, sondern bereits seit dem Kaiserreich bis in die 1970er/80er Jahre auch Justiz-Häftlinge. Man wisse bisher weder genau, aus welchen Haftanstalten sie kamen, noch wie viele es waren, noch nach welchen Kriterien sie für die Arbeit im Moor ausgewählt wurden oder wie genau die Lebens- und Arbeitsbedingungen vor Ort waren.

 

Der Forschungsansatz

Er stehe damit vor der Aufgabe, die Zwangsarbeit im Quickborner Himmelmoor in vier politischen Systemen (Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Zeit u. Bundesrepublik Deutschland) nachzuzeichnen und vergleichend zu analysieren. Die größte Herausforderung dabei bestehe aus seiner Sicht darin, einerseits die „lange Geschichte“ des privaten und gewerblichen Torfabbaus im Himmelmoor vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart nachzuzeichnen sowie andererseits die Spezifika der NS-Zeit (Kontext der Diktatur, Rassismus, Spezifische Gewalt, Formale Übernahme der Torfproduktion durch die SS) herauszuarbeiten. Schließlich solle hier eine Gedenkstätte zur Geschichte des Nationalsozialismus entstehen und kein Museum zur Geschichte der Torfproduktion.

 

Fragestellungen

Bei der Untersuchung der Geschichte des Torfabbaus im Himmelmoor – unter besonderer Berücksichtigung des Themas „Zwangsarbeit“ – werde ein zweifacher Schwerpunkt gesetzt: Es gehe sowohl um die Beschreibung und Analyse des Sozialraums Himmelmoor als auch um die Arbeit und die Lebensbedingungen der eingesetzten Straf- und Kriegsgefangenen (hier als ein Schwerpunkt: Arbeitskommando 1416).

 

Folglich werde das Projekt im zeitlichen Vergleich die Charakteristika der unterschiedlichen im Himmelmoor bestehenden Lager mit ihren jeweiligen Lebensbedingungen herausarbeiten, gleichzeitig soll die Wahrnehmung der Lager durch die „Mehrheitsgesellschaft“ sichtbar gemacht werden. Das bedeutet, dass nach Möglichkeit sowohl zum einen detailliert die Situation der Gefangenen beschrieben und analysiert werden soll als auch zum anderen die Rolle und das Handeln von Behörden, zivilen Firmen und Anwohnern/Anwohnerinnen in Bezug auf die bestehenden Lager.

 

Inhaltliche Vertiefungen

Sofern möglich, soll eine möglichst „dichte Beschreibung“ des Lager-Alltags vorgenommen werden: Wie waren die Lager aufgebaut und welche Funktionsbereiche gab es? Wie wurde der „Betrieb“ der Lager organisiert? Wie interagierten Gefangene und Lagerpersonal? Wie sah das Verhältnis unter den Gefangenen bzw. den Gefangenengruppen aus? Wie erlebten die Lagerinsassen ihre Einweisung? Wie sah der Tagesablauf aus? Welche Arbeiten mussten die Gefangenen verrichten? Wie sah die Ernährungssituation aus? Wie waren die hygienischen Bedingungen und wie sah die medizinische Versorgung aus? Welche Formen von Gewalt und welche Strafen gab es? Gab es Todesfälle und wie kamen ggf. Menschen zu Tode? Welche Überlebensstrategien nutzten die Lagerinsassen? Welche kulturellen Aktivitäten existierten in den Lagern? Wie wurde die Befreiung bzw. Entlassung erlebt und was geschah in den Wochen und Monaten danach?

 

Quellen

Was sich davon letztendlich realisieren lässt und wie genau einzelne Aspekte ausgearbeitet werden können, hänge maßgeblich von den vorhandenen Quellen ab. Die Rekonstruktion des Lageralltags beispielsweise sei zwingend auf die Auswertung von Selbstzeugnissen wie z.B. Briefe, Fotografien oder Tagebucheinträge angewiesen und für eine Rekonstruktion der Organisations- und Baugeschichte brauche es Verwaltungsakten.

 

Bezüglich der Verwaltungsakten sei die Recherche bisher einigermaßen erfolgreich verlaufen. Im schleswig-holsteinischen Landesarchiv in Schleswig konnten bereits umfangreiche Bestände aus der Überlieferung der Provinzialregierung sowie aus der Überlieferung der Justizvollzugsanstalt Rendsburg ausfindig gemacht und gesichtet werden.

 

Weitere Quellen gesucht!

Eine große Hilfe für die Realisierung des Projekts könnten bisher unveröffentlichte Quellen aus Privatbesitz sein. Es stellt sich die Frage, ob Menschen aus Quickborn und Umgebung möglicherweise noch in Besitz von Unterlagen zum Torfabbau bzw. zu den Lagern die im Himmelmoor bestanden, sind? Das könnten Fotografien, Aufzeichnungen, Tagebücher, Arbeitsunterlagen, Presseberichte, antiquarische Bücher, Texte etc. sein. Wilke: „Erst einmal ist alles von Interesse!" Eine ganz besondere Hilfe wäre es auch, wenn sich Personen fänden, die sich mit der Praxis des Torfabbaus im Zeitraum von den 1950er bis zu den 1980er Jahren auskennen und dazu bereit sind, sich für das Projekt interviewen zu lassen. Wer mit Unterlagen oder persönlichen Aussagen etwas beitragen möchte, kann sich mit dem Trägerverein unter info@henri-goldstein-haus.de in Verbindung setzen.

 


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